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Theater

Freitag, 16. November 2012

Wie Algorithmen unsere Welt formen oder ~ ° ~ ° ~ ° Inflation der Nanoroboter

TOTAL (TRILOGIE). Eine Theaterinstallation
von Bülent Kullukcu, Anton Kaun, Dominik Obalski.

Elias (BGR), Raymond (US), Jean-Luc (F), Karl (AT) und Antonin (F) versammelten sich auf einer kybernetischen Bühne, umringt von Hologrammen ihrer eigenen Intelligenz, der Intelligenz der gesamten Schöpfung. Zahnräder aller neuen Art drehten sich unaufhörlich, perpetituiv die Quadratur des Kreises reflektierend – Klaviermusik empfing uns und ich fragte mich, wo wohl der Flügel stand und wer der ihn bedienende Klavierspieler war?

Die Schrottpresse schrie es aus dem Dröhnen der Kakerlaken heraus: ein altes Instrument vergangener Evolutionsphasen, die Vollendung der Mechanik westlicher Musikinstrumente, ohne Gnade zermalmt, zerstückelt zu einem Haufen Holz und verworrenem Draht.

„Keine Gefühle sind in diesem Stück. Es gibt in diesem Stück nichts zu fühlen.“ Tatsächlich, die schwarzweiß spielenden Kinder spiegelten mir, dass ich diesmal nicht atemlos die Treppe zur Aufführung hinauf kam, wie bei dem ersten Teil der Trilogie in der Galerie Kullukcu im März. "Die letzten Tage der Menschheit oder der Untergang der Welt durch schwarze Magie" hatte es damals geheißen.

Mein wiederholter Audit des Triumvirats Kullukcu-Kaun-Obalski ehrt mich und die Produktion, die sich heuer unter anderem als Musical-Meditation gut bei mir verkauft. Erneut erkenne ich erst etwa ab der Halbwertszeit, dass der Klavierspieler tatsächlich die Tasten drückt und nicht nur etwa Requisite ist wie all die Modellsoldaten auf der Bühne der Grausamkeit. In der Schillerstraße hatte ich ja deren Live-Projektionen als Manifestation von Craigs Übermarionette gelobt.

Elias beschäftigte sich mit nicht nur menschlichen Massen, sondern auch Maßen. 1945 wäre die Atombombe das Maß aller Dinge geworden. Als transmutierter Schatz des Märchenkönigs wäre es simultan die Million. Jeder möchte diesen Schatz besitzen, und so lange die Inflation (nach Franz Hörmann historisch alle 70 Jahre fällig) erfolgreich zurückgedrängt werde ­- wie man anhand des Oktoberfestbieres stetig beobachten kann - hätte dieses Maß „kosmopolitischen Klang“. Elias' Algorithmus lautet: Inflation = Krieg = Evolution.

Raymond, der täglich seine um die 200 zusammen gestellten Vitaminpräparate aus der Plastiktüte schluckt – Zeit sparend und hinsichtlich seines undankbaren Familiennamens „Kurzweil“ sich asymptotisch der Unsterblichkeit annähernd – gab mit seinem Algorithmus Anlass zur Sprengung eines halben Mariannengrabens von Chicago bis New York. Ganz wie im zweiten Weltkrieg, nur eben den Dimensionen unserer Zeit angepasst – um, wie gewohnt, dem Wohle der Menschheit zu dienen – half uns seine Firma FatKat auf Jagd nach den Schätzen. Als kriegserfahrene Europäer wissen wir, dass ein enormer Wettbewerbsvorteil erlangt wird, indem Fiberglas-Kabel von Paris nach Wien verlegten werden, um ein Signal 35 mal schneller als wir mit der Maus klicken können zu übertragen. Als Märchenkönige müssten wir uns nie wieder spekulative Geschicklichkeit aneignen.

Kommen wir zum Jahr 2102. Überhaupt müssten wir überhaupt nichts mehr lernen. Einfach die Nanoroboter einatmen, die in der Luft schweben. In unseren Blutbahnen schwimmend uns direkt mit Burgern, Steaks oder vegetarischer Kost versorgend, müssten wir auch nichts mehr essen und nicht mehr furzen. Wenn der Körper nur noch Plastik ist und 5% biologischer Rest, haben wir erkannt, dass das Universum eine spirituelle Maschine ist und den Maschinen unsere Menschenrechte zurück gegeben, die wir ihnen unrechtmäßig genommen hatten.

Rückblende. Irgendwann zwischen 2092 und 2066: „Der tanzende Körper ist ein Körper, der sich von sich trennt, um zu sich zu finden, der seine Form verlässt, um eine neue einzugehen, der einen Ort aufgibt, um einen anderen einzunehmen:“ Quantentheorie bei Jean-Luc. Mary Wigman tanzt uns „drohende, unermüdliche Präsenz“ unseres Körpers. Wie kommt es, dass unsere 2022 im Hinterkopf eingepflanzten iPads inclusive ihrer virtuellen Realitäten genauso eine Verlängerung unseres Körpers darstellen wie Sterne, Galaxien, Superstruktur des Kosmos, welche wir erst durch den von Forschergeist untrennbaren Spionagesatelliten, der mitten auf der Bühne landete, zu schätzen lernten?

Meine Begleitung fragte an der Bar, ob sie das Bier mit hinein nehmen dürfte. Freundlich wurden wir von Herren Kaun und Knoll eingeladen, die Kammern voll wummernden Erdbebens zu betreten. „Das Stück ist völlig körperlos. Das Stück blutet nicht. Du kannst dich in diesem Stück nicht hinsetzen und denken. Das Stück ist nicht gedankenlos. Das Stück ist nicht gedankenvoll, das Stück hier ist total“. Splash! Da landet eine Bierflasche durch ruckartiges Aufstehen eines Gastes auf dem Boden und zerschellt. Geschäftsführer Herr Hoffmann bittet das Paar, einzutreten, hebt die größte Scherbe auf, wie ein Totem. Der Zuschauerraum hält 20 Menschen, darunter eine ältere Dame, die vielleicht den Krieg miterlebt hat. Karl jedenfalls hat sie nicht aus dem Saal verschrecken können, vielmehr zwei Theaterbesucher der jüngeren Generation. So viel Realität musste sein.

Die respektvolle Trilogie verlangte uns viel Mut, Ehrlichkeit und Toleranz ab, der Applaus kam erst nach 30 Sekunden Stille. Ja, die Stille. Das ist es, was wir schon lange vermisst hatten. Diese auszukosten empfehle ich Ihnen heute Abend. Optieren Sie morgen, Samstag, den 17. November zum nachträglichen Konzert mit Herren Kaun, Bürger, Beck, Acher.

(i-camp / neues theater münchen. 15. - 17. November 2012)

Dienstag, 17. April 2012

Apokalypse Now oder Die Übermarionette – World War I

Theaterinstallation: „Die letzten Tage der Menschheit
oder der Untergang der Welt durch schwarze Magie“
Konzept: Bülent Kullukcu

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Galerie Kullukcu – Schillerstraße 23. Nein, nicht die Schellingstraße an der Universität. Ja, die Schillerstraße am Hauptbahnhof, direkt zwischen rosa Schaufenstern und Computerläden, Juwelieren und Geldwechselstuben. Ich komme zu spät, habe mich verfahren.

Nachdem ich einen Parkplatz im eingeschränkten Parkverbot ergattern konnte (Wikipedia: „Kraftfahrzeuge dürfen nicht länger als drei Minuten halten“), sehe ich das Schild: KULLUKCU, trete ein. Intuitiv steige ich das Treppenhaus mehrere Stockwerke aufwärts und begegne im dunklen Gang einem Mann in Turban und Pistole in der Hand – ja, in meiner Vorstellung: angesichts der Grausamkeiten des ersten Weltkrieges, mich darauf einzulassen, fordert mir ungeheure Kräfte ab – und sage „Hallo“. Der Mann kam nur zum Beten hierher. Ich danke ihm. Ein Stock weiter oben, da ist es. EMBRYO spielen auch bald hier, am 20. April. Ich werde eingelassen, still, wie bei einer Mediation, sitzen die Menschen andächtig. Susanna, mit der ich später noch sprechen werde und die das Stück schon fünf mal gesehen hat, begrüßt mich mit einem Lächeln und es geht los.

In einer Zeit der Zerissenheit und Orientierungslosigkeit suchen die Menschen nach einem alles „übergreifenden Sinn“, der „alle vereint“. Die Vibrationen eines gefilterten Oszillators tragen die Stimmen in der Dunkelheit. Kleine, antennenartige Tischlämpchen, die wie Insektenfühler anmuten, kreisen und beleuchten eine virtuelle Szenerie, konkret wie Modelleisenbahndeko, Zinnfigurenansammlungen und Raumfahrtplastikminiaturen.

Das Video-Live-Bild wird geführt von Anton Kauns Hand, der sich in München unter dem Pseudonym „Rumpeln“ einen Namen gemacht hat und immer noch macht – letztes Jahr auf dem Digital Analog Festival im Gasteig seine Hand sogar an einem scharfen Metallband bei der sehr extrovertierten Performance, die eine zerrissene Innenwelt spiegelt, mit tiefem Schnitt verletzte und sich so – zu seinem Glück – per Notarzt vom Ansturm des Publikums rettete.

„Wir trinken Blut, wir trinken es heiß, wir treiben den Preis“ - eine Raumsonde schwebt per Nylonfaden vom Kosmos herunter, während wir das rituelle Tieropfer zur Rechten mit Erschaudern sehen und nicht sehen wollen, auf der frontalen Projektionsfläche die Übermarionette, die Edward Gordon Craig doch immer gefordert hatte und ich nie verstand, wie das im Theater aussehen soll – jetzt weiß ich es endlich.

Der Kameramann Anton lädt mich auf ein Gläschen Wein ein. Drei Männer waren es, Dominik und Bülent mit ihm auf der Bühne. Ich schnappe mir das Buch „Das Theater der Grausamkeit“ von Antonin Artaud, das ich plötzlich, bei hellem Schein der Publikumsbeleuchtung auf meiner Sitzbank auffinde. Was war das eigentlich? Hier lese ich es, ein „Schmeltztiegel aus Feuer und wirklichem Fleisch“.

Wie wirklich ist der erste Weltkrieg, wenn ein Soldat zu seinem Stolz hinzufügt, er hätte auch was für seine Untergebenen getan – neben der Massakrierung ihrer Gesichter ihnen auch das Mädchen, welches er vergewaltigt hatte, überließ. Bitte verstehen Sie mich, wenn ich hier auf weitere Zitate aus dem Werk von Karl Krauss verzichte.

Ich spreche mit Herrn Kullukcu persönlich. Eine „Negativ-Meditation“ nennt er seine Arbeit. Susanna, die Dame, die hier in der Gallerie Kullukcu an der Bar und am Einlass arbeitet, kann immer besser verstehen, was Karl Krauss eigentlich gemeint hatte. Der Autor sprach von einem Bürgerkrieg, einem Krieg im Innern, der den äußeren Krieg eigentlich erst möglich macht.

Wie aktuell ist ein Karl Krauss von 1918, wenn wir uns immer noch mit Phrasen wie „Kopf hoch“ und den „Mut nicht sinken lassen“ in Situationen sagen, die, wer weiß wie weit entfernt von denen des Soldaten in den letzten Tagen der Menschheit sind, dessen Stimme computergenerierte Softwaredemo ist?

Robert Hofmann, dem Geschäftsführer des i-camp, ist München manchmal etwas zu klein. Ich grüße ihn als Gast der heutigen Aufführung und konfrontiere ihn mit der Aufgabe des Theaters. Herr Hoffmann äußert sich zur Problematik des Spagats zwischen Däumchendreherpublikum und der Schwierigkeit, Menschen in den Zustand der Selbstreflexion zu bringen - „was hier hervorragend funktioniert“, so Hoffmann.

Das Bühnenbild, nachträglich wie eine Ausstellung zu besichtigen, erinnert an Labortische, jetzt, da die strategische Kriegsführung abgeschlossen, unbewegt, nur noch virtuell oder im Geiste geschehen kann. Doch eine Requisite fällt aus dem Rahmen: das Keyboard – die Musik. Wenn unsere Computertechnologie mitsamt Audio und Video sich nicht ebenfalls den gleichen Ursprung teilen müssten, den Krieg.

Da die Aufführung des Originalwerks zehn Tage gedauert hätte, stellt uns Herr Kullukcu Raketen zur Verfügung, um uns den Aufenthalt auf dem Mars vorweg zu nehmen, der notwendig gewesen wäre, um das Stück zu verstehen - „Die Handlung, in hundert Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos wie jene“ (Krauss). Die Vielfalt der computergenerierten Stimmen (weiblich, männlich, Belgisch, Deutsch, unverständlich, rück Wärts gesprochen), der Chor - wie im antiken Theater - kann die Schlagkraft menschlicher Gewalt in unserem Bewusstsein kaum mildern, welche nur wenige Sätze oder Passagen aus dem Untergang der Welt durch schwarze Magie verursachen.

Die neuen Technologien (selbst Krauss macht nichts anderes als „copy&paste“ in seiner fünfaktigen Tragödie), wie Kullukcu mir am Telefon im nach Hinein berichtet, gegen deren Erprobung im Krieg sich der Dramatiker, wie gegen Hetzjournalismus, zu seiner Zeit wandte, haben auch heute am menschlichen Verhalten nicht viel geändert. Ganz untrennbar davon, wie mir anmutet, beschreibt der Regisseur als Schwarze Magie etwas, das, losgelöst von der originären, alle Geschicke leitet, und nur noch für sich selber steht. Vielleicht ist sich das Individuum in Massen ja wirklich nicht bewusst, dass es mit Technologie nicht nur mehr unschukdige Magie betreibt?

"In einer freien Gesellschaft ist es so, dass Medien frei entscheiden" zitiert süddeutsche.de den innenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Michael Hartmann, zur aktuellen Berichterstattung Breivik, die mir Herr Kullukcu als Beispiel zu meiner Frage der Gegenwärtigkeit seiner Aufführung nennt. „Für das eigene Verhalten“, so Kullukcu, „ist jeder selbst verantwortlich“. Mit seiner endgültigen Antwort verbleibt er einfach: „Entweder man entscheidet sich für das Gute oder das Böse. Soviel ist da nicht dazwischen.“

Auch an diesem Sonntag habe ich kein „Pickerl“ an meiner Frontscheibe im eingeschränkten Halteverbot. Es regnet. Ich glaube, ich komme am Freitag noch mal in die Schillerstaße. EMBRYO spielen ja wieder. Susanna, die Dame an der Theke, verabschiedet mich mit „bis bald!“.

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Volltext der Tragödie: http://www.archive.org/stream/diefackel418krauuoft/diefackel418krauuoft_djvu.txt

Breivik SZ: http://www.sueddeutsche.de/panorama/prozess-gegen-norwegischen-attentaeter-breivik-prahlt-mit-seinen-bluttaten-1.1334346

WIkipedia Halteverbot: http://de.wikipedia.org/wiki/Haltverbot

Anton Kaun: http://www.rumpeln.de
Galerie Kullukcu: http://kullukcu.de

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Zuletzt aktualisiert: 8. Feb, 01:10

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